Ein gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben
Johann Gottlieb Fichte:
Nun gibt es zwei Stufen der Menschheit. Und im Fortgang unseres Geschlechts, ehe die letztere allgemein erstiegen ist, zwei Hauptgattungen von Menschen. Einige, die sich noch nicht zum vollen Gefühl ihrer Freiheit und absoluten Selbständigkeit erhoben haben, finden sich selbst nur im Vorstellen der Dinge; sie haben nur jenes zerstreute, auf den Objekten haftende, und aus ihrer Mannigfaltigkeit zusammenzulesende Selbstbewusstsein. Ihr Bild wird ihnen nur durch die Dinge, wie durch einen Spiegel zugeworfen; werden ihnen diese entrissen, so geht ihr Selbst zugleich mit verloren; sie können um ihrer selbst willen den Glauben an die Selbständigkeit derselben nicht aufgeben: denn sie selbst bestehen nur mit jenen. Alles, was sie sind, sind sie wirklich durch die Außenwelt geworden. Wer in der Tat nur ein Produkt der Dinge ist, wird sich auch nie anders erblicken; und er wird recht haben, solange er lediglich von sich und seinesgleichen redet. Wer aber seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, was außer ihm ist, sich bewußt wird, – und man wird dies nur dadurch, daß man sich unabhängig von allem durch sich selbst zu etwas macht, – der bedarf der Dinge nicht zur Stütze seines Selbst, und kann sie nicht brauchen, weil sie jene Selbständigkeit aufheben, und in leeren Schein verwandeln. Das Ich, das er besitzt, und welches ihn interessiert, hebt jenen Glauben an die Dinge auf; er glaubt an seine Selbständigkeit aus Neigung, er ergreift sie im Affekt. Sein Glaube an sich selbst ist unmittelbar. Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben.“
Fichte, Johann Gottlieb (1962 ff.): Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie, Bd.1,2: Frommann-Holzboog, S. 195